Evangelisch
Eisenstadt - Neufeld

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus.

Die Jahreslosung soll uns durch dieses kommende Jahr begleiten:

Lukas 6,36

„Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“

Barmherzigkeit

Barmherzigkeit ist ein Wort, das auf sehr alte Wurzeln zurückgeht, über die sich die Sprachforscher nicht ganz einig sind.
Geht es schon auf das gotische zurück oder ist es eine Übersetzung griechischer und lateinischer Worte, die Mitleid oder Erbarmen bezeugen, sozusagen von oben nach unten.

Barmherzigkeit aber, durch Luthers Bibelübersetzung tief verwurzelt, gehört zu den „Herzwörtern“ der deutschen Sprache. So hat es der Theologe und Religionsphilosoph Friso Melzer, übrigens einer meiner Hochschulprofessoren, in einem seiner Bücher genannt.

Die Rettung kommt nicht von mir, sondern von außen. Sie weist uns auf Christus hin und hat oft ein Gleichnis im Hintergrund - Sie kennen das Gleichnis vom sprichwörtlich gewordenen „Barmherzigen Samariter“ aus Lukas 10.
Wie es Philipp Friedrich Hiller 1767 in seinem Lied gedichtet hat:

  1. Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert;
    das zähl ich zu dem Wunderbaren, mein stolzes Herz hat's nie begehrt.
    Nun weiß ich das und bin erfreut / und rühme die Barmherzigkeit.
  2. Das muss ich dir, mein Gott, bekennen, das rühm ich, wenn ein Mensch mich fragt;
    ich kann es nur Erbarmung nennen, so ist mein ganzes Herz gesagt.
    Ich beuge mich und bin erfreut / und rühme die Barmherzigkeit.

„Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“
Das ist mehr als nur „Seid nett zueinander“. Das ist mehr als die Goldene Regel, die sich in fast allen Weltreligionen findet: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu“.
Unser Vater im Himmel hat uns mit Empathie ausgestattet – zu spüren, wie es anderen geht.
So heißt es sinngemäß in der Einleitung zum Neukirchener Kalender 2021, der sich an den Herrnhuter Losungen orientiert und täglich eine Auslegung und eine Geschichte dazu bietet, auch von vielen österreichischen Pfarrerinnen und Pfarrern:
Wir können diese Barmherzigkeit, die uns geschenkt wurde, weitergeben – das ist das Motto der Jahreslosung für 2021.
… Wir finden Worte, die stärken und verändern.
Wir benutzen Hände, die helfen und heilen.
Aber vor allem haben wir ein Herz, das Gott uns geschenkt hat, mit viel Liebe.
Deshalb ist Barmherzigkeit keine Aufgabe, sondern eine Gabe, ein Geschenk Gottes.
Oder wie unsere reformierten Geschwister stärker betonen würden: Unser Leben als Antwort für das, was Gott uns geschenkt hat.
Diese Barmherzigkeit, diese Liebe will sich ausbreiten wie Sonnenstrahlen, will verändern, verwandeln, verbinden, Hoffnung und Heimat schenken.

Wer ist mein Nächster? Wer ist meine Nächste?

Der oder die mir /nicht/ vor die Füße, sondern ans Herz gelegt wurde. Ob aus dem Haus nebenan oder … oder aus einem fernen Land.
Das ist auch die Grundlage aller Bemühungen der Diakonie oder der Caritas oder dem Hilfswerk oder … oder …
Aber der Anfang liegt immer in uns, in unserem Herzen, in unserem Tun.

Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert;
„Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“

Es ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass ich die Jahreslosung nicht im Original nach Lukas 6 zitiert habe.
Dort heißt es: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Hier stocke ich schon, genauso wie manchmal in der Konfirmandenvorbereitung beim 4.Gebot.

Mein Vater … sitzengelassen hat er uns … geschlagen, wenn er betrunken oder schlecht gelaunt war … das soll ein Vorbild der Barmherzigkeit sein?
Gemeint ist natürlich bei Jesus der Vater im Himmel.
Darum habe ich diese zwei Worte in der Predigt eingefügt, in guter altkirchlicher Tradition, wie es schon Kirchenväter formuliert haben: Origines im 3.Jahrhundert und Kyrill an der Wende um das 5.Jahrhundert, beide aus Alexandria und beide nicht unumstritten. Alexandria, einst mit seiner berühmten Bibliothek eines der geistigen Zentren der Welt und heute zweitgrößte Stadt Ägyptens neben Kairo direkt am Meer.
Origines und Kyrill also, denen ich mich in der Interpretation anschließe, damit nicht manche Jugendliche ihr Vaterbild in die Jahreslosung hineinfühlen:
„Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“

Der Vater im Himmel, zu dem Jesus auf aramäisch „Abba“ sagte, man hört lautmalerisch das Wort „Papa“ mit.
So dürfen wir dann auch im Vaterunser wie in jedem Gottesdienst und vielleicht auch beim Aufstehen oder vor dem Einschlafen beten.
„Abba, lieber Vater“ … „Vater unser im Himmel“

Es ist irgendwie seltsam, dass dieses „Herzwort Barmherzigkeit“ mich seit meiner Jugend begleitet hat und wie wohl kaum etwas anderes auch meinen Dienst prägt oder zumindest prägen möchte.
Ich erinnere mich noch als negatives Beispiel an Hausbesuche, die wir als Jugendliche bei älteren Menschen gemacht haben. Und ein Mann dabei völlig kühl und überzeugt gesagt hat: „Ich habe noch nie in meinem Leben einen Fehler gemacht.“
Ich meine noch heute zu spüren, wie es mir damals eiskalt den Rücken hinuntergelaufen ist.

altes schwarz-weiß Foto von Paul Humburg, der von einem Blatt in der Hand liest

Ganz anders Paul Humburg, den ich in der Bibliothek eines älteren Freundes entdeckt und dessen Bücher ich als Jugendlicher verschlungen habe.
Erst viel später habe ich mich mit seiner Biographie beschäftigt.
Er lebte von 1878 bis 1945, war reformierter Pfarrer, u.a. in Wuppertal-Barmen. Er war Bundeswart des heutigen CVJM-Westbundes und einer der führenden Persönlichkeiten der „Bekennenden Kirche“ gegenüber dem Nationalsozialismus, 1934
auch in kirchenleitender Position, jahrelang auch Präses der Bekenntnissynode der Kirchenprovinz Rheinland.

Für mich einer der wertvollsten Theologen des letzten Jahrhunderts, dem ich – nur literarisch - begegnet bin und ein begnadeter Seelsorger.
In einem seiner raren Bücher steht ein Satz, der mich nie mehr losgelassen hat: „Wer selber einmal Bankrott gemacht hat, lacht nicht mehr über den Bankrott anderer.“

Barmherzigkeit in der Kirche.

Ein anderes Zitat hat mich immer begleitet, aus einer ganz anderen „Ecke“ sozusagen.
Es stammt vom französischen Schriftsteller Albert Camus, auch dem Existentialismus zugerechnet. Ein Religionskritiker, dem ich das eigentlich nicht zugetraut hätte:

Seine Grundsätze soll man für die wenigen Augenblicke in seinem Leben aufsparen, in denen es auf Grundsätze ankommt, für das meiste genügt ein wenig Barmherzigkeit.Albert Camus

Barmherzigkeit.
Barmherzigkeit in der Kirche. Habe ich auch erlebt, wenn auch nicht immer.

Sie kennen mich schon ein wenig und wissen, dass ich nicht nur Historiker bin, sondern auch der Poesie manchmal nicht abgeneigt. Als Jugendsünden habe ich auch Gedichte veröffentlicht.
Aus dem Band „Eine Windstille lang“ (1982) habe ich auch bei meiner Vorstellungspredigt hier in Eisenstadt 1998 – so lange ist das schon her – zitiert:

Ich hab geträumt

Ich hab geträumt,
es blühen Rosen aus Asphalt
und aus der Burg des Schweigens
wächst wie wilder Wein Verstehn.

Ich hab geträumt,
die eigne Schuld lehrt uns Erbarmen
und Freundlichkeit
sei eine Frucht des Geistes.

Ich hab geträumt,
wo Christen leben, stirbt der Zorn
und Wahrheit
liebt die Menschen hin zu Gott.

Vielleicht
habe ich wirklich nur geträumt …

Die Jahreslosung 2021, die Sie als Kärtchen mitnehmen können:
„Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“

Silvester. Jahreswende.
Ich kann nicht umhin, an das Gedicht zu denken, das Dietrich Bonhoeffer zur Jahreswende 1944/45 an seine Verlobte Maria von Wedemeyer und seine Mutter aus der Gefängniszelle geschrieben hat.
Auf sein Leben und Werk können wir heute nicht eingehen, das haben wir schon öfter getan. Ihm ist der Widerstand gegen Hitler zum Verhängnis geworden.
Schon 1933 hat er gesagt: „“Es reicht nicht, die Opfer unter dem Rad zu verbinden. Man muss dem Rad selbst in die Speichen fallen.”
Wenige Tage vor Kriegsende wurde er – einer der begabtesten Theologen des 20.Jahrhunderts – im KZ Flossenbürg hingerichtet.
Sein Gedicht an seine Verlobte und seine Mutter ist eines seiner stärksten Vermächtnisse geworden: „Von guten Mächten wunderbar geborgen.“

Es gibt im Gesangbuch unter Nr. 65 auch eine andere, vielleicht kunstvollere Melodie, aber die Vertonung von Siegfried Fietz gehört wohl zu den meistgesungenen christlichen Liedern, in viele Sprachen übersetzt.
Als ich das Lied Ende der 70er-Jahre mittlerweile des letzten Jahrhunderts in einer vollbesetzten Basler Kirche zum ersten Mal gehört habe, ist es mir wochenlang nicht aus Kopf und Herz gegangen. Ich erinnere mich, dass ich damals sogar meiner Mutter in einem Brief davon geschrieben habe.
Siegfried Fietz hat dieses Lied schon öfter in unserer Kirche gesungen. Er wird auch – so die Verhältnisse es zulassen – Gast beim burgenländischen Gustav-Adolf-Fest am 3.Juni 2021 in Eisenstadt sein.
Mit einer Aufnahme dieses Liedes, dieses Gedichtes von Bonhoeffer zur Jahreswende 1944/45 – auch auf youtube zu hören – schließe ich diese Predigt am Ende eines dramatischen Jahres und verabschiede mich gleichzeitig für eine Woche in den Urlaub.

Bleiben Sie achtsam und behütet – „und von guten Mächten wunderbar geborgen.“
Amen.